Die Funktion des inneren Richters

Auszug aus dem Buch “Es ist schwer, die Tür zu finden, wenn es keine Wände gibt. Die Metapher des inneren Richters in der Hypnotherapie” von Elmar Woelm, Bambusgarten.com/epubli, 368 Seiten

Paperback Preis 19,99 Euro

Definition des inneren Richters, Über-Ich

»Immer wieder behauptete Unwahrheiten werden nicht zu Wahrheiten, sondern was schlimmer ist, zu Gewohnheiten.«


Oliver Hassenkamp


Kennen Sie das, diese Gedanken und inneren Stimmen, die manchmal alles und jedes was Sie tun, fühlen oder denken, kommentieren? Diese Stimmen, die alles bewerten und Ihnen innerhalb von Sekunden das Gefühl geben können, Sie seien nichts wert, nicht gut genug, hätten es wieder einmal nicht geschafft, taugten sowieso nichts oder es wäre wirklich alles verloren, wenn Sie nicht endlich all Ihre Unzulänglichkeiten überwinden würden? Das ist das Wirken des inneren Richters.


Das Konzept des inneren Richters geht zurück auf Sigmund Freuds Struktur-Modell und kann zu einem großen Teil davon abgeleitet werden. In diesem Modell unterscheidet Freud zwischen drei Instanzen, dem Es, dem Ich und dem Über-Ich.


Dabei entspricht das Es all unseren Trieben, Verlangen nach Vergnügen, Wünschen und Lust. Es ist der älteste Teil unseres Geistes, der animalische Teil, der durch den Instinkt angetrieben wird, unsere primären, ursprünglichen Bedürfnisse zu erfüllen.


Das Ich hat die Aufgabe, diese Triebe des Es zu kontrollieren, diese Triebe gegenüber der Realität abzuwägen und sowohl für eine Überprüfung einer gesunden Balance zwischen innerer und äußerer Realität zu sorgen, als auch zwischen den Bedürfnissen des Es und den Forderungen und Maßstäben des Über-Ichs zu vermitteln. In seinem Buch Das Ich und das Es (1923) liefert uns Freud eine schöne Metapher über die Beziehung zwischen Es und Ich, die heute häufig benutzt wird: Das Es ist wie ein Pferd, das sehr stark und kraftvoll ist und oft seine ganz eigenen Wünsche und Bedürfnisse hat. Das Ich ist wie der Reiter, der bemüht ist, die überlegene Kraft des Pferdes in Zaum zu halten.


Ein weiterer Aspekt des Ichs ist unsere bewusste Erfahrung und unser Denken darüber, wer und was wir sind.


Das Über-Ich ist die am weitesten entwickelte Instanz in unserer Persönlichkeit und besteht aus all unseren moralischen Normen, all unseren Glaubensmustern, geistigen Haltungen, Urteilen, Idealen, Vorurteilen sowie emotionalen Neigungen, die wir von unseren Eltern und anderen nahen Bezugspersonen von Kindheit an übernommen haben. Es bildet eine Art Gewissen, aber es ist nicht das natürliche, echte Gewissen, das mit der Seele in Kontakt ist, mit etwas Größerem. Es ist eher ein falsches Gewissen, das einen sehr destruktiven Einfluss auf uns haben kann.


Für Freud war das Über-Ich ein wertvoller und notwendiger Teil, dessen Aufgabe es ist, sicherzustellen, dass die Menschen sich moralisch und verantwortungsvoll benehmen. Das Über-Ich erreicht dies dadurch, indem es das Es kontrolliert, das sonst – so die Vorstellung Freuds – seine unakzeptablen Triebe skrupellos ausagieren würde. Dies passt zu Freuds Grundhaltung, die, in meinen Augen, grundsätzlich eine eher negative gegenüber der menschlichen Natur ist. Diese Haltung lässt sich leicht aus seiner Zeit und der Gesellschaft, in der er lebte, erklären. – Sie spiegelt die jüdisch-christliche Vorstellung der Erbsünde (wir sind schlecht und in Sünde geboren).


Im Gegensatz dazu pflegen humanistische Ansätze der Psychologie eine Haltung, die Menschen grundsätzlich und natürlicher Weise für gut hält, was einen großen Unterschied ausmacht.


Der humanistische Ansatz einer grundsätzlich guten Natur des Menschen kann uns zu einer ganz anderen Interpretation des Über-Ichs führen. Dies ist einer der Gründe, warum ich vorziehe, es den inneren Richter zu nennen.


Der innere Richter macht sich in unterschiedlichen Formen bemerkbar. Die verbreitetsten sind innere Stimmen (Gedanken), die unsere Gedanken und unser Verhalten kommentieren und verunglimpfen. Manchmal wird er nicht als innere Stimme wahrgenommen, sondern als negatives Gefühl, wie zum Beispiel Schuldgefühle, Kummer oder Wut und Ärger. Dies kann dadurch geschehen, dass der betreffende Wertmaßstab des inneren Richters in einem Entwicklungsstadium entstanden ist, als wir noch nicht sprechen konnten oder weil das externe Missfallen, das ihn kreiert hat, lediglich auf nonverbale Weise ausgedrückt worden ist. Letzteres ist eine sehr verbreitete Methode bei der Erziehung von Kindern (böse auf das Kind schauen, die Stirn runzeln und Ähnliches). Des Weiteren können Über-Ich Attacken, die nur dadurch wahrgenommen werden, dass man sich schlecht fühlt, daher rühren, dass wir uns oft des zugrunde liegenden verbalen/gedanklichen Angriffs nicht bewusst geworden sind. Dieser erfolgt meistens in Sekundenbruchteilen vor dem schlechten Gefühl.


Es gibt sogar einen noch schwieriger zu erkennenden Teil des inneren Richters, und den meisten Menschen wird es zunächst nicht einmal dämmern, dass es sich dabei tatsächlich um den inneren Richter handelt, der da zu uns spricht. In Wahrheit jedoch kann dies manchmal die heimtückischste Variante des Richters sein: Er versteckt und verkleidet sich dabei als unser guter Freund und intelligenter, weiser Helfer oder gut meinender Ratgeber. Er kann die Stimme sein, die uns immer nur lobt und Komplimente verteilt und uns bestätigt, dass wir die Dinge genau richtig gemacht haben (immer mit dem subtilen Unterton darin, ja nicht nachzulassen).


Auf der einen Seite sind positive Meinungen über uns selbst, einschließlich eines positiven Selbstbildes, sehr wichtig für unser normales Alltagsleben. Sie unterstützen uns auf verschiedene Weise, und wie Byron Brown (2001) es ausdrückt: »... bevor Sie auf sie verzichten können, müssen Sie zunächst das Wissen über sich selbst entdecken und integrieren, an dessen Stelle sich diese Urteile gesetzt haben.«, was die Frage unseres wahren Wesens berührt.


A.H. Almaas schreibt in seinem Buch Work On The Superego (1977):


»Wir können dann erkennen, dass die Angst, die den Prozess der Unterdrückung in Gang setzt, die Angst vor dem Über-Ich ist. Das Über-Ich aber konditioniert nicht nur unser inneres Leben durch Furcht, sondern es unterstützt auch Dinge, die bereits äußere Zwangsmechanismen in der Kindheit unterstützt haben. Obwohl solche Mechanismen harmlos erscheinen mögen, da sie bestimmten Richtungen von Libido oder Manifestationen der Seele dienen, fördern sie auch die Bildung von Vorurteilen, die wiederum die Entwicklung von zwanghaften Gedankenmustern, Gefühlen und Verhalten unterstützen. Diese ihrerseits werden in die Struktur des Charakters inkorporiert.« (Übersetzung des Autors)


Vergleiche sind eine weitere Ausdrucksform des inneren Richters, mit der die meisten Menschen Schwierigkeiten haben, sie als solche zu erkennen. Immer wenn wir uns mit anderen vergleichen, ist höchstwahrscheinlich der innere Richter aktiv: »Er macht das besser als ich« oder »Ich kann das besser als er« und so weiter. Auf subtiler Ebene schließen solche Vergleiche in der Regel ein, dass wir nicht gut genug sind, nicht wert genug, richtig genug und so fort.


Üblicherweise sind wir mehr oder weniger mit dem inneren Richter identifiziert, sodass wir gar nicht bemerken, dass es sich in Wirklichkeit um die verinnerlichte Stimme eines unserer Elternteile oder einer sonstigen bedeutsamen Person in unserem Leben handelt. Eine typische Antwort, die wir bekommen, wenn wir jemanden fragen, wer denn das sagt (eine bestimmte Phrase des Über-Ich), ist: »Na, ich!« – eine Antwort, die von der völligen Identifizierung mit der betreffenden Aussage zeugt.


Aus Sicht der Verhaltensforschung bzw. der Verhaltenstherapie kann man den inneren Richter als Ergebnis eines Lernprozesses durch Reiz und Reaktion ansehen, der unsere Wahrnehmung von uns selbst und der Welt auf eine Weise verzerren kann, die sogar zu psychischen Störungen führen kann.


Was für ein Modell man auch immer anwenden mag, es ändert nichts an den Auswirkungen des Phänomens, das Freud Über-Ich nannte. Die Absicht dieses Buches ist es, seine Funktion und die daraus resultierenden Konsequenzen darzustellen, und Wege aufzuzeigen, wie man aus unterschiedlichen Perspektiven effektiv damit umgehen kann. Besonders geht es dabei um Methoden der modernen Hypnotherapie und ihre Anwendung.


Verdinglichung


Der innere Richter ist eine Metapher. Aus meiner Sicht eine sehr hilfreiche Metapher. Mit dieser Metapher werden innere Wirkkräfte, die uns üblicherweise eher verborgen bleiben, konkreter, klarer und griffiger. Dadurch ist es aber auch unvermeidlich, dass der innere Richter uns oft wie eine wirkliche Person vorkommt. Das ist durchaus beabsichtigt, denn mit einer konkreten Person können wir besser arbeiten, als mit einem schwammigen, diffusen Irgendetwas in uns. Auf der anderen Seite sollten wir uns immer darüber im Klaren sein, dass es sich um eine Metapher handelt, eine Verdinglichung (Reifikation)! Und jede Verdinglichung birgt auch die Gefahr in sich, dass man sie mit der Wahrheit verwechselt. Der innere Richter und die hier erläuterten Ideen sind keine Wahrheit, sie sind ein hilfreiches Arbeitsmodell. Brown und Fromm (1986) warnen beim Thema Ego-State Therapie (siehe unten) davor, die Ich-Zustände zu sehr zu personifizieren, weil dies zu einer Spaltung des Bewusstseins anstelle von Integration führen könnte. Das gilt sicher nur in entsprechend gelagerten Fällen (z.B. Psychosen), allerdings macht es deutlich, wie wichtig es ist, im Einzelfall die Anwendung solcher Metaphern zu prüfen und individuell darüber mit dem Klienten oder Patienten klar zu kommunizieren.

Die Entwicklung der Ich-Identität und des inneren Richters

Wenn wir im üblichen Sprachgebrauch das Wort ich benutzen und über uns selbst reden, sprechen wir gewöhnlich von dem, was wir gelernt haben, dass wir es wären. Das ist unsere Persönlichkeit, die sich durch zahlreiche Identifikationen gebildet hat.


Ein Baby besitzt in dem Sinne kein Selbst-Bewusstsein, keine wirklich Idee davon, ein Selbst zu sein, wie wir es als Erwachsene haben. Das Baby ist einfach, es ist reines Sein. Teile seines Körpers wie zum Beispiel eine Hand oder ein Fuß werden mitunter als von ihm selbst dissoziiert erlebt. Auf die gleiche Weise kann das Baby die Dinge um sich herum nicht klar als von sich selbst getrennt erleben. Es erlebt keine wirkliche Unterscheidung zwischen sich und der Mutter als getrennte Wesen. Im Laufe der Zeit lernt es, solche Unterscheidungen vorzunehmen. Es beginnt, sich mit seinem Körper zu identifizieren – eines der ersten Selbstbilder, die es entwickelt. Andere folgen bald. Dieser Identifikationsprozess ist nötig, um in der Welt zu funktionieren.


In seinem Buch The Holographic Universe (1991) zitiert Michael Talbot Studien von Joel Whitton (Psychiater Universität Toronto), der mithilfe von Hypnose Menschen zu einer Zeit regredieren ließ, die er Zwischenreich nannte (between life state). Hierzu folgendes Zitat:


»... sie (die Patienten in dem Zustand, Anm. des Verfassers) erzählten, dass sie solange nicht einmal einen Körper hatten, bis sie anfingen zu denken. Ein Mann beschrieb das so, dass, wenn er aufhörte zu denken, er eine bloße Wolke in einer endlosen Wolke sei, undifferenziert. Aber sobald er anfing zu denken, wurde er zu seinem gewöhnlichen Selbst.« (Übersetzung des Autors)


Menschen mit Nah-Tod-Erfahrungen berichten oft in ähnlicher Weise, zum Beispiel, dass sie eine Wolke aus Farben gewesen seien, ein Nebel, ein Energiemuster und ähnliche Dinge. Diese Menschen beschreiben außerdem oft, dass sie imaginieren konnten, sie hätten eine Art Körper mit klaren Formen und Gestalt, in dem sie sich zu einem gewissen Grade ähnlich erleben konnten, wie auf der Erde. Dieser jedoch existierte nur in ihrer Fantasie, weil sie sich in Wirklichkeit außerhalb ihres Körpers befanden, aber es half ihnen, einen gewissen Sinn von Identität zu bekommen. Diese Identität muss ein neugeborenes Kind erst erwerben, beziehungsweise jedes Mal wieder neu entwickeln, wenn man die Existenz von Wiedergeburt in Betracht zieht, bei der Menschen gewöhnlich jedes Mal ihre früheren Existenzen und Identifizierungen vergessen.


Es gibt verschiedene Einflüsse, durch die sich Identifizierungen bilden können. Alle Erfahrungen seit unserer Kindheit fließen dort hinein: Identifikationen mit anderen, als erstes natürlich unseren Eltern und anderen Autoritätsfiguren, ebenso wie Idole und Helden. Des Weiteren gibt es ganz unterschiedliche Rollen, in die wir hineingeboren werden, die uns prägen (Kind, Bruder, Schwester, Altersfolge usw.). Andere Rollen wählen wir mehr oder weniger bewusst im weiteren Verlauf des Lebens, wie einen bestimmten Beruf auszuüben, Mutter oder Vater sein oder diesem oder jenem Sport, diesem Hobby oder sonstiger Aktivität nachzugehen und so weiter.


Andere Einflüsse, die unsere Identität prägen, resultieren aus Attribuierungen, die wir durch Andere erhalten und übernommen haben, wie zum Beispiel: Du bist dumm/intelligent, gerissen, faul, zu klein, zu dick/zu dünn, sportlich/unsportlich, musikalisch/ unmusikalisch oder dies oder das.


Obwohl die Bildung der Identität ein lebenslang andauernder Prozess ist, prägen uns die Einflüsse aus den frühen Jahren unserer Kindheit in besonderem Maße und bleiben das ganze Leben lang erhalten, wenn wir nicht daran arbeiten sie zu verändern.


John und Helen Watkins (2008) beschreiben in der Ego-State-Therapie die Entstehung von gesunden, wie auch ungesunden Ich-Anteilen (Ego-States). Dabei sollen Menschen zwischen 5 und 15 der so genannten gesunden Ich-Zustände nutzen. Das sind die üblicherweise positiv besetzten Identifikationen mit den unterschiedlichen Rollen unseres Lebens. Nichts desto trotz bleibt es eine Identifikation mit etwas und trennt uns von dem, was wir eigentlich sind (bevor wir sagen, ich bin dies oder jenes). Der Begriff Gesundheit, bezogen auf die Psyche, ist darüber hinaus ein sehr künstliches Konstrukt, das es in der Form, wie man oft den Eindruck hat, und wie es durch die einschlägigen diagnostischen Werke unterstellt wird, gar nicht gibt. Zumindest nicht als klassisches Gegensatzpaar von Gesundheit-Krankheit.


William James (1890) unterscheidet das empirische Selbst oder empirische Ich (empirical Self/Ego) und was er als reines Ich (pure Ego) bezeichnet. Seiner Definition nach ist das empirische Selbst »... alles, das der Mensch üblicher Weise als Ich bezeichnet.« (Übersetzung des Autors) James erläutert, dass es nicht immer einfach ist, genau zwischen ich und mein zu unterscheiden (mein Körper, mein Fuß und so weiter). Er betrachtet dies als die Folge davon, dass wir uns üblicher Weise mit Dingen außerhalb von uns identifizieren oder genauer gesagt, mit allen Dingen, die nicht wirklich zu uns gehören. Wenn wir der folgenden Beschreibung von William James zustimmen, ist diese Art des Ich, das durch Identifikation gebildet wird noch deutlicher ein falsches Selbst in dem Sinne, dass es nicht unser wahres Wesen ist:


»Im weitesten möglichen Sinne, jedoch, ist des Menschen Selbst die Summe von all dem, was er sein Eigen nennen kann. Nicht nur sein Körper und seine geistigen Kräfte, sondern seine Kleidung, sein Haus, seine Frau und Kinder, seine Vorfahren und Freunde, sein Ruf und seine Arbeit, sein Land und Pferde, seine Yacht und sein Bankkonto.«


Dies ist eine sehr offensichtliche Beschreibung des illusionären Selbst, wie es üblicher Weise durch das Selbstbild der Menschen entsteht.


Als Erwachsene haben wir gelernt, uns mit vielen Dingen zu identifizieren und zahlreiche Selbstbilder durch unsere Erfahrungen davon abzuleiten: »Ich habe diesen Körper, ich bin soundso groß, ich habe diesen Beruf (ich bin xy!), habe diese und jene Ideen und Vorstellungen, ich bin derjenige, der diesen oder jenen Sport ausübt. Ich habe diese Interessen und bin derjenige, der folgende Gefühle und Eigenarten besitzt, ich bin Mutter, Vater, Ehemann oder -frau, verheiratet oder Single« und so weiter. Sprachlich betrachtet ist die Identifizierung mit Gefühlen besonders intensiv. Wir sagen »Ich bin traurig, ich bin wütend, ich bin eifersüchtig usw.« Wie James bereits sagte, sind das die Dinge, von denen wir in der Regel glauben es wären wir, wenn wir von uns als ich sprechen. Aber dieses Ich ist nicht unser wahres Wesen, sondern es ist das Ego, die Persönlichkeit, die sich rund um unser wahres Wesen gebildet hat, damit wir in dieser Welt funktionieren können. Man kann es als das identifizierende Selbst oder als die verfremdende Seite des Selbst bezeichnen. Das übliche Ich ist die Summe aller geistigen Elemente, durch die wir – ähnlich wie auf der physischen Ebene unseres Körpers – Substanz und Identität auf mentaler Ebene bekommen.


Bei der Entwicklung dieser Identitätsstrukturen spielt das Über-Ich, unser innerer Kritiker, die wichtigste Rolle. Wie oben bereits erläutert wurde, besteht dieser innere Richter aus all unseren Glaubenssystemen, geistigen Haltungen und Einstellungen, Urteilen und Vorurteilen, Idealen und emotionalen Neigungen.


Wie genau haben sich diese Dinge entwickelt? Wie wir gesehen haben, wurde die Grundlage für unseren inneren Richter in der Kindheit gelegt, als unsere Eltern und andere Bezugspersonen von uns erwarteten, dass wir uns auf eine bestimmte Weise verhielten. Oft haben sie ihren Willen und ihre Vorstellungen von den Dingen mit verschiedensten Formen von Gewalt uns gegenüber durchgesetzt. Weil ein kleines Kind von den Eltern abhängig ist, um all seine Bedürfnisse erfüllt zu bekommen und zu überleben, lernt es zu gehorchen und ihre Forderungen zu erfüllen. Zu einem bestimmten Grade und auf die eine oder andere Weise zu gehorchen, ist der einzige Weg, die Liebe und den Schutz zu bekommen, die das Kind sucht und braucht. Jede Auflehnung gegen den Willen der Eltern ist gewöhnlich ebenso mit Strafe bedroht und führt in der Regel dazu, dass das Kind aufgibt oder spezifische Strategien entwickelt, die ihm helfen, mit dem Interessenkonflikt umzugehen. In jedem Fall hat das Kind das Bedürfnis von den Eltern anerkannt, geliebt und beschützt zu werden und strebt so danach, sich deren Standards und Anforderungen anzupassen. Es tut alles, um die Liebe der Eltern zu erhalten und Missbilligung zu vermeiden, auch wenn es in unterschiedlichem Maße gegen ihre Autorität rebelliert.


Die Entwicklung des Über-Ichs, des inneren Richters, ist unvermeidlich und auch nötig, wenn wir Kinder sind. Kleine Kinder sind sowohl egozentrisch (in dem Sinne, dass sie alles was passiert auf sich selbst beziehen) als auch egoistisch (in dem Sinne, dass sie nur an sich selbst denken und sich nur um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern). Das ist ganz natürlich und eine wichtige Überlebensstrategie. Die erste und einzige Triebfeder eines kleinen Kindes besteht darin, seine Bedürfnisse und Triebe erfüllt zu bekommen: Geliebt zu werden, versorgt zu werden, getröstet zu werden, ernährt zu werden und so weiter. Ein anderer Trieb besteht darin, mit Neugierde die Welt zu erforschen und zu erfahren, sprich (innerlich, seelisch, psychisch) zu wachsen.


Bei der Erfüllung dieser Triebe, Bedürfnisse und Wünsche, jedoch, gibt es eine Menge Begrenzungen und Hindernisse. So müssen sich die Eltern auch um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Sie haben ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen, die manchmal im Konflikt mit denen des Kindes stehen. Außerdem gibt es wichtige Dinge, die ein Kind lernen muss, um zu überleben und ein Mitglied eines größeren Teils der Welt zu werden, zum Beispiel der Familie, der Gesellschaft und der Kultur, in die es hinein geboren wurde. Es muss die verschiedenen Gefahren des Lebens kennen lernen, ebenso wie die vielen Regeln, die es in seiner Kultur zu beachten gibt, damit das Zusammenleben mit Anderen möglich, einfacher und bequemer wird. Unabhängig davon gibt es oft auch Machtstrukturen, die nicht unbedingt der aktuellen Situation des Kindes oder der Kultur dienen.


Dem Kind müssen von außen Grenzen gesetzt werden, denn es hat zunächst keine Einsichten in diese Dinge, kein Verständnis für die Grenzen, die gesetzt sind. Es folgt einfach seinen natürlichen Impulsen, seine Bedürfnisse erfüllt zu bekommen: »Ich zuerst und nicht das kleine Neugeborene! Ich will mein Essen jetzt und nicht erst wenn Mama dazu bereit ist. Dieser »Haufen« (Stuhl) ist wirklich interessant – mal sehen, wie er sich anfühlt und schmeckt. Die Straße ist so spannend – lass uns sehen, was auf der anderen Seite los ist (unabhängig von der Gefahr, die der Verkehr mit sich bringt). Lass mich diesen Topf auf dem Ofen erforschen und schauen, was darin so gut riecht (unabhängig davon, ob es eine heiße Suppe enthält an der man sich verbrennen kann).«


Wir kennen viele weitere Beispiele, wo es nötig ist, die Interessen eines Kindes zu beschneiden. Und ein kleines Kind wird uns oft nicht zuhören, wenn wir versuchen, zu ihm in ruhiger und vernünftiger Stimme zu sprechen. Sehr oft sind überzeugendere Mittel nötig, wie eine laute und eindringliche Stimme: »Tu das nicht! Warte! Stopp! Hör‘ sofort damit auf! Lass‘ das!« und Ähnliches. Oft sind die Eltern auch in unmittelbarer Sorge, ja Panik um ihr Kind und reagieren sogar noch eindringlicher und bedrohlicher für das Kind. Als Ergebnis bekommt es unvermeidlicher Weise den Eindruck, dass es selbst nicht in Ordnung sei. Auf ähnliche Weise erhält das Kind im Laufe der Jahre viele Botschaften darüber, was von ihm erwartet wird und wie es sich verhalten soll. Das schließt all die Dinge ein, die tatsächlich gar nichts mit dem Kind zu tun haben, sondern wo Probleme und Eigenarten der Eltern entweder dem Kind gegenüber ausagiert werden, oder die das Kind wegen seiner Egozentrizität auf sich bezieht. Das Kind kann nicht erkennen, dass die schlechte Laune seiner Mutter nichts mit ihm zu tun hat. Auch sind Eltern in vieler Hinsicht oft sehr geübt darin, Kindern die Schuld zu geben und ihnen Schuldgefühle für die eigenen Frustrationen zu machen, auch wenn diese nicht das Geringste mit den Kindern zu tun haben.


Auf diese Weise verinnerlichen Kinder die Standards ihrer Eltern und anderer Bezugspersonen immer mehr. Sie lernen, sich mit den Botschaften von außen zu identifizieren und beginnen die verschiedenen Werte, Glaubenssätze und Haltungen zu übernehmen und zu internalisieren. Die Dinge werden für das Kind immer problematischer, je mehr die Eigenarten der Eltern einen »neurotischen« Charakter haben, was zu einem bestimmten Grad der Normalfall unserer heutigen Gesellschaften ist. Denn lehrbuchartige psychische Gesundheit ist eine Illusion, eine Art rein theoretischer Idealzustand.


Es gibt viele Gründe dafür, dass wir unsere Eltern internalisieren, das heißt, ihre Werte, Glaubenssätze und Haltungen zu unseren eigenen machen und uns vollkommen damit identifizieren. Wie beschrieben, ist dies zuallererst ein Verteidigungsmechanismus, um uns vor der Gefahr zu schützen, ihre Liebe und Zustimmung zu verlieren. Dieser Prozess ist auch unter dem Begriff Introjektion bekannt, einer unbewussten Identifikation mit Anderen als Folge eines Abwehrmechanismus. Teilweise wird davon die Internalisierung unterschieden, die dann eine bewusste Integration bezeichnet (Ego-State Therapie, Fritzsche u. Hartmann, 2010). In diesem Buch werden die beiden Begriffe synonym verwendet. Perls, Hefferline & Goodman (1951) beschreiben den Prozess in Beziehung zur Gestalttherapie folgendermaßen: »Die Bewahrung eines Introjektes verhindert den vollständigen Kontakt mit beiden, sich selbst und Anderen.« (Übersetzung des Autors)


Perls (1978) schreibt über Introjektion:


»Introjektion ist ein unbewusster Abwehrmechanismus (mit der Folge von Missbilligung, Leugnung, und Unterdrückung), der benutzt wird, wenn es einen Mangel an vollständigem psychologischem Kontakt zwischen dem Kind und den Personen gibt, die für seine seelischen Bedürfnisse verantwortlich sind. Der bedeutsame Andere wird zum Teil des Selbst (des Ichs) gemacht, und der Konflikt, der aus dem Mangel an Bedürfniserfüllung resultiert, wird internalisiert, sodass der Konflikt scheinbar einfacher zu managen ist.« (Übersetzung des Autors)


Ein weiterer Aspekt zu diesem Thema ist, dass wir die Standards, Glaubenssätze, Werte, Gedanken und Urteile unserer Bezugspersonen aus Liebe annehmen. Wir wollen eins mit unseren Eltern sein und passen uns ihnen aus Liebe an.


Wir ziehen es vor, unsere Eltern zu behalten und von ihnen auf vielfältige Weise attackiert zu werden, bevor wir die Bedrohung auf uns nehmen, allein gelassen zu werden. Wir verbinden uns mit unseren Eltern, stimmen uns auf sie ein und glauben ihnen. Wir schützen uns so vor der Angst, sie zu verlieren. Auf diese Weise sind wir ihnen treu. Wir werden sogar in vieler Hinsicht zu ihnen und können so sicher sein sie zu behalten, da wir sie so in gewisser Weise jeder Zeit mit uns herumtragen. Kinder tun alles, um mit ihren Eltern und der Familie zusammen zu sein und mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Sie übernehmen lieber selbst die Verantwortung für Dinge, die die Eltern ihnen antun, als dass sie erkennen, dass sie »schlechte« Eltern haben, das heißt Eltern, die sie vernachlässigen, missbrauchen, misshandeln oder auf andere Weise mit Mängeln behaftet sind. Um sich ihre guten Eltern zu erhalten, entwickeln Kinder auch oft Fantasiefiguren – einen guten Vater, eine gute Mutter –, die ihnen entweder ihre unerfüllten Bedürfnisse erfüllen oder die negative, vielleicht missbrauchende Aspekte der Eltern repräsentieren. Dadurch können die Eltern selbst in der Wahrnehmung des Kindes liebevoll, fürsorgend und wertvoll bleiben.


Die Integration elterlicher Standards im Über-Ich ist eine brillante Strategie. Es ist gleichzeitig ein Abwehr- und Überlebensmechanismus und wirkt auf eine verzerrte aber effektive Weise. Dadurch, dass wir die Eltern internalisieren, haben wir sie jeder Zeit bei uns und sind mit ihnen verbunden. Wir können sie sogar verlassen und sie auf bewusster Ebene hassen, während wir gleichzeitig unbewusst loyal zu ihnen sind und ihnen verbunden bleiben.


Allerdings, wie bereits erwähnt, werden die Standards des inneren Richters nicht nur durch unsere Eltern erzeugt, sondern auch durch andere wichtige Personen im Leben. Tatsächlich kann jeder Mensch im Leben zu diesem Prozess beitragen, wenn eine Bemerkung oder Handlung, die einen Standard kreiert, uns in einem Augenblick erreicht, in dem wir verletzlich oder auf andere Weise empfänglich sind. Solche Worte oder Handlungen können zum Beispiel dann eine starke Auswirkung haben, wenn wir uns in einem emotional intensiv erlebten Zustand befinden. Jede Bemerkung, die während eines solchen Zustands gemacht wird, kann sich in uns als Standard des inneren Richters manifestieren.


Wenn wir erwachsen werden, übernimmt der innere Richter weitere Standards je nach unserer individuellen Entwicklung, unseren Interessen und Aktivitäten, wobei er diese an die Standards anpasst, die er früher bereits gelernt hat. Wie wir später noch sehen werden, ist der innere Kritiker extrem intelligent darin, jede beliebige neue Idee, jedes Konzept, jede Lehre der wir begegnen zu benutzen und zu verdrehen, damit sie zu den alten Werten passt. Er boykottiert entweder diese neuen Dinge oder inkorporiert sie, und benutzt sie durch die Hintertür gegen uns.


Werte und Glaubensinhalte sind nicht notwendiger Weise Teil des Über-Ichs, allerdings ist eine Reaktion auf diese durch den inneren Richter nahezu unvermeidlich. Der Richter duldet es nicht, dass seine Werte und Glaubensinhalte bedroht werden. Er beobachtet sehr genau sowohl unser eigenes, als auch das Verhalten anderer daraufhin, ob gegen seine Standards verstoßen wird und reagiert augenblicklich mit Angriffen (welche nicht immer sofort als solche zu erkennen sind, wie wir noch sehen werden). Auf jeden Fall gehört auch jedes abwertende, empörte, angewiderte oder ähnliche Urteil über andere Menschen definitiv zu den Aktivitäten des inneren Richters, wie er in diesem Buch verstanden wird.

Auswirkungen des Über-Ichs und des inneren Richters

Ursprünglich half uns der innere Richter zu überleben und in der Welt zu funktionieren. Aber wenn wir älter werden, bleiben wir in gewisser Weise in der Vergangenheit stecken. Der innere Richter wächst nicht in adäquater Hinsicht mit uns mit, sondern behandelt uns weiterhin wie ein Kind. Als Folge sind unsere Reaktionen auf die Welt oft ganz und gar nicht angemessen und förderlich, sondern die von verängstigten Kindern, die vielfache Strategien entwickelt haben, um mit der Angst vor Bestrafung umzugehen. Diese Strategien funktionieren so perfekt, dass die zugrunde liegende Furcht, die ursprünglich als Reaktionsstrategie entwickelt wurde, vollkommen unbewusst bleibt. Das bedeutet, dass diese Strategien aus einer gewissen Perspektive so perfekt sind, dass wir uns sehr oft nicht im Geringsten der Furcht bewusst sind, die unseren Reaktionen und Handlungen zugrunde liegt. Der Umgang der meisten Menschen in Konflikten und Diskussionen ist daher durch unbewusste Reaktionen auf kindliche Verhaltensmuster geprägt. Solche Interaktionen sind also die von Kindern, die aufgrund einer Konditionierung handeln. Almaas (1987) beschreibt das sehr treffend, wenn er sagt, dass der Hauptunterschied zwischen einem wirklichen Kindergarten und der Gesellschaft darin besteht, dass ein Kindergarten als solcher anerkannt ist, während sich die Gesellschaft selbst für erwachsen hält.


Gerald Hüther beschreibt aus Sicht der Neurobiologie verschiedentlich (Ballreich u. Hüther, 2010), dass wir in Stresssituationen automatisch auf frühkindliche Bewältigungsstrategien zurückgreifen, also die Strategien, die im frühen Kindesalter irgendwie zum »Erfolg« geführt haben (allerdings aus der damaligen kindlichen Sicht): Toben, Schmollen, freundlich sein, fressen usw.). Diese gelernten frühkindlichen Verhaltensweisen sind, so Hüther, im Präfrontalen Cortex gespeichert. Es sind »eingebrannte« Haltungen (Glaubenssätze über sich und die Welt), die nicht durch Logik zu ändern sind.


Berne unterscheidet in seiner Transaktionsanalyse drei Ich Zustände: Das Eltern-Ich (Parent), das Erwachsenen-Ich (Adult) und das Kindheits-Ich (Child). Der innere Kritiker wird zu einem inneren Repräsentanten unserer strafenden Eltern. Wir lernen sein Missfallen zu vermeiden und zu versuchen ihm zu gefallen. Unglücklicherweise ist der innere Richter niemals vollständig zufrieden gestellt. Wir lernen in uns selbst wertzuschätzen, was unsere Eltern wertgeschätzt haben und zu missbilligen, was sie missbilligt haben. Dabei bleibt all dies (zunächst/weitgehend) unbewusst, wie wir bereits gesehen haben, alle Normen des inneren Richters, ebenso wie alle Verdrängungsmechanismen und Bewältigungsstrategien.


Sobald Teile dieser unbewussten Dinge an die Oberfläche kommen, reagiert das Ich mit Angst. Es befürchtet wieder die gleichen schmerzhaften Konsequenzen zu erleiden, die früher bestimmten Gefühlen, Gedanken und deren Ausdruck folgten und zu negativen Reaktionen der Eltern führten. Typische Verhaltensweisen der Eltern, die bei Kindern Angst und Unsicherheit auslösen, sind Zurückweisung, Bestrafung, Kritik, Abscheu und Ekel, Abwertung, ausgelacht werden, Gespött und ähnliche Reaktionen.


Ursprünglich haben wir uns vor der Reaktion unserer Eltern auf unser Verhalten gefürchtet. Im Laufe der Zeit haben wir dann diese Furcht auf jede ähnliche Situation übertragen, auf ähnliche Menschen oder was auch immer als Auslöser zur Aktivierung der gleichen Ängste geeignet ist. Was es noch gemeiner und wirkungsvoller macht, ist, dass wir diese ängstigenden Reaktionen, die früher von außen kamen, nun vom inneren Richter erwarten. Die Beziehung zwischen der befürchteten Reaktion der Eltern (die mit den Eltern selbst gleichgesetzt werden kann) und dem Kind hat sich übertragen auf die Beziehung zwischen dem Ich und dem inneren Richter (Über-Ich).


Unsere Reaktion auf Angriffe des inneren Richters ist automatisch und unbewusst verbunden mit Auslösereizen aus der Vergangenheit. Als Folge aktiviert das Ich jeden möglichen Abwehrmechanismus, wenn irgendetwas ins Bewusstsein zu kommen droht, was dem inneren Richter missfallen könnte.


Als Erwachsene brauchen wir den inneren Richter grundsätzlich nicht mehr. Almaas schreibt (1977):


»Das Ich braucht diese innere zwanghafte Einrichtung als Erwachsener nicht mehr, handelt aber so, als ob das der Fall wäre. Da es nicht länger von den Eltern abhängig ist, sondern jetzt ein strukturierter Teil der Seele ist, braucht das Ich in Wirklichkeit lediglich Wissen im Erwachsenenalter. Aber es verhält sich weiterhin so, als ob die Regeln und die Verdrängung des Über-Ichs immer noch für das Überleben notwendig wären.« (Übersetzung des Autors)


Als Erwachsene können wir ohne diese be- und abwertende Instanz des Über-Ichs wissen und begreifen, was in einem bestimmten Kontext angemessen ist oder nicht. Es ist sogar im Gegenteil so, dass der innere Richter uns oft davon abhält, Dinge auf sachdienliche Weise zu betrachten und zu bewerten, da er nicht im Geringsten an Wahrheit und Realität interessiert ist. Er hält sich einfach ohne jede Neubewertung an alten Standards fest. Er will überleben und Recht behalten. Daher verhält er sich weiterhin so, als wären seine Regeln und Verdrängungen immer noch nötig, um das Überleben des Menschen sicherzustellen. Jedoch ist der innere Richter, so wie er in unserem Erwachsenenleben existiert, nicht im Mindesten in der Lage, unser Überleben zu sichern, sondern er stellt eine Verdrehung unserer natürlichen Kraft der Selbsterhaltung dar, die er zu einer destruktiven Aggression gegen uns selbst irreleitet. Als Resultat projizieren wir die Regeln des inneren Richters auf andere und denken, wir würden von ihnen beurteilt, auch wenn dies gar nicht der Fall ist.


Um es zu wiederholen: Obwohl seine Entwicklung einmal notwendig und unvermeidlich war als wir Kinder waren, um zu überleben und unsere Persönlichkeit zu entwickeln, ist der innere Richter gleichzeitig die hinderlichste Instanz für unsere menschliche Weiterentwicklung, unseren Ressourcenreichtum und unsere natürliche Lebendigkeit als Erwachsene.


In unserem üblichen Alltagsbewusstsein sind unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen weit entfernt von unseren wirklichen Möglichkeiten, die einschließen würden, dass wir vollkommen lebendig wären und in der Lage, jede Situation ganz und gar so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist, ohne dass sie durch Bewertungen, Vorurteile und Glaubensmuster verdreht wird. Unsere übliche Wahrnehmung steckt voller Meinungen, emotionalen Neigungen, Glaubensinhalten, Idealen und so weiter. Diese Färbungen hindern uns daran, das Leben so wahrzunehmen, wie es wirklich ist. Aus dieser Sicht ist der innere Richter eine wesentliche Struktur in uns, die uns daran hindert, das Leben in seiner wahren Realität zu erfahren, weil jede unserer Wahrnehmungen seinen Filter und seinem Urteil unterworfen ist. Er bewirkt, dass wir uns bei dem, was wir erleben, schuldig fühlen, mangelhaft, schlecht, dumm oder unwert. Dogmatismen, ebenso wie alle möglichen Arten von psychischen Störungen sind oft das Ergebnis der harschen Richtlinien des inneren Richters, der selbst vor konfligierenden Ansprüchen und Befehlen nicht zurückschreckt. Aber, so bedrohlich wie der innere Richter uns auch manchmal erscheinen mag (sofern wir uns seiner überhaupt bewusst sind), ist er in Wahrheit nichts anderes als ein zahnloses wildes Tier, das uns gar nicht wirklich schaden kann, wenn wir uns seiner eigentlichen Natur bewusst werden. Um diese Metapher noch prägnanter zu machen: Der innere Richter bedroht uns mit einem wilden schrecklichen Biest, das sich im Keller unseres Hauses befinden soll, in Wirklichkeit aber gar nicht existiert (Florentin Krause, Seminar des Diamond Approach/ Ridh-wan Schule, Sommer 2004).


Und der innere Richter entwickelt sich auf einer Ebene doch gemeinsam mit uns. Er wird so intelligent wie wir es sind, und wenn wir erwachsen sind, inkorporiert er alle neuen Ideen oder Ziele in die alten Standards, die weiterhin grundlegend bleiben. Wenn wir erwachsen sind, können wir nur Zugang zu unseren vollen ursprünglichen Fähigkeiten finden und in vollständigem inneren Frieden und Freiheit leben, wenn wir lernen, uns vom inneren Richter und seinen Maßstäben freizumachen. Das könnte man dann als wirkliches Erwachsensein bezeichnen.

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